Sharenting – Die sozialen Medien als Familien-Fotoalbum

Kinderbilder im Netz

Die Möglichkeiten Verwandte und Bekannte am eigenen Leben teilhaben zu lassen, sind aufgrund digitaler Geräte und den Sozialen Medien vielzählig und stehen praktisch allen frei zur Verfügung. Wenn nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Kinder geteilt wird, nennt man dies "sharenting". Der Begriff setzt sich zusammen aus dem englischen "parenting", also "Eltern sein" und "to share", teilen.

Beim sharenting wird der Online-Gemeinschaft Einblick in persönliche Momente gegeben. Oft wird dabei in die Privatsphäre des Kindes eingedrungen, ohne dass dieses gefragt wurde. Die stolzen Eltern kreieren unbewusst mit Bildern, Videos, Chats, Blogs etc. einen virtuellen Lebenslauf ihrer Kinder. Einmal online gestellt, ist es kaum mehr nachvollziehbar, wer Einsicht und Kontrolle über die entsprechenden Daten hat.

Dabei sind sich die Eltern der Gefahren des Internets häufig nicht genügend bewusst: Cybermobbing, Missbrauch und Verfälschung von Aufnahmen sowie Identitätsdiebstahl sind online keine Seltenheit.

Das Recht am eigenen Bild

Das verfassungsmässige Recht der informationellen Selbstbestimmung, Art. 13 Abs. 2 BV, sieht vor, dass jede Person selbst darüber entscheidet, welche persönlichen Informationen wem wann zu welchem Zweck offengelegt werden. Der Begriff der persönlichen Informationen meint sämtliche Elemente, welche Rückschluss auf die betroffene Person erlauben. Daraus ergibt sich das privatrechtliche "Recht am eigenen Bild" (Art. 28 ZGB), wonach die Einwilligung der betroffenen Person sowohl für das Erstellen des Bildes an sich, wie auch für eine Veröffentlichung einzuholen ist, sofern die fragliche Person auf den Bildern erkennbar ist (BGE 129 III 715, E. 4.1). Bei der Beurteilung der Erkennbarkeit der betroffenen Person sind sämtliche Umstände zu berücksichtigen – auch bei einem vermeintlich anonymen Bild (z.B. das Gesicht durch ein Emoji verdeckt oder eine Aufnahme von hinten) ist durch Kontextinformation (Bildunterschrift, veröffentlichende Person, Datum- und Ortsangaben etc.) häufig eine Identifikation möglich.

Zwischen Selbstbestimmung und Sorgerecht: das Recht am Bild des Kindes

Das Recht am eigenen Bild ist Teil der Persönlichkeitsrechte (Art. 28 ff. ZGB) und steht jedem Menschen zu, unabhängig von seinem Alter.

Um dieses Recht wahrnehmen zu können, muss die entsprechende Person urteilsfähig sein, also in der Lage sein vernunftgemäss zu handeln (Art. 16 ZGB). Dazu ist zum einen die Erkenntnisfähigkeit, und zum andern die darauf basierende Handlungsmöglichkeit vorausgesetzt. In anderen Worten: Das Kind muss (für die Annahme der Urteilsfähigkeit) in der Lage sein, eine konkrete Situation zu erfassen, die Konsequenzen abschätzen zu können und dann entsprechend seiner Beurteilung zu handeln. Die Urteilsfähigkeit ist relativ, also immer mit Bezug auf eine bestimmte Handlung zu beurteilen, und nicht an ein bestimmtes Alter geknüpft.

Im Kontext der Zustimmung zur Veröffentlichung von Aufnahmen auf Social Media ist die Urteilsfähigkeit meines Erachtens konsequenterweise folgendermassen differenziert zu beurteilen: an die «ablehnende» Urteilsfähigkeit sind tiefere Anforderungen zu stellen, als an die «zustimmende». Denn Kinder sind relativ früh in der Lage, Entscheidungen über die Selbstdarstellung zu treffen. Sie wissen, was ihnen unangenehm oder peinlich ist und was sie hinsichtlich einer bestimmten Aufnahme von sich empfinden (siehe dazu: Studie von Kutscher/Bouillon, Schriftenreihe des Deutschen Kinderhilfswerkes e.V., 2018, S. 53 ff.). Lehnt ein Kind eine Aufnahme, und insbesondere eine Veröffentlichung, ab, so kann dies allein auf der eigenen Wahrnehmung basieren, für welche kein tiefergehendes Verständnis der Umstände erforderlich ist. Soll für eine bestimmte Aufnahme eine Einwilligung zur Veröffentlichung ergehen, ist aber zu berücksichtigen, dass im Rahmen von Social Media und der, teilweise schwer verständlichen technischen und rechtlichen Besonderheiten (z.B. Nutzungsbedingungen), sowie der spezifischen Risiken des Internets ein erhöhtes Mass an Auffassungsfähigkeit erforderlich ist (ausführlicher dazu: Fankhauser/Fischer, Brennpunkt Familienrecht, Festschrift für Thomas Geiser zum 65. Geburtstag, 2017, S. 209). Für dieselbe Aufnahme kann im Hinblick auf die Urteilsfähigkeit also ein anderes Mass für die Zustimmung als für die Ablehnung angewendet werden.

Ist die Urteilsfähigkeit nicht gegeben, kann das Recht der betroffenen Person möglicherweise durch eine vertretende Person wahrgenommen werden. Hinsichtlich der Vertretungsfähigkeit (z.B. durch Eltern) wird unterschieden zwischen absolut und relativ höchstpersönlichen Rechten. Zentral für die entsprechende Qualifikation ist dabei, ob es im Interesse der urteilsunfähigen Person liegt, im fraglichen höchstpersönlichen Bereich vertreten werden zu können. Hat die urteilsunfähige Person ein Interesse daran, dass niemand ausser ihr ein Recht wahrnehmen kann, wird dieses als absolut höchstpersönlich eingestuft (beispielsweise der Entscheid über die religiöse Zugehörigkeit nach dem 16. Altersjahr) und kann nur von ihr selbst wahrgenommen werden.

Im Bezug auf das Recht am eigenen Bild muss die Frage nach der absoluten oder relativen Höchstpersönlichkeit meines Erachtens im Einzelfall, je nach Motiv, Veröffentlichung(szweck) und weiteren Umständen, beurteilt werden, ähnlich wie es dies beispielsweise bei medizinischen Eingriffen getan wird (ausführlicher dazu: Büchler/Hotz, AJP 2010, S. 565 ff.). Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dieser Frage in der Lehre steht aber noch aus (vergleiche dazu auch: Fankhauser/Fischer, Brennpunkt Familienrecht, Festschrift für Thomas Geiser zum 65. Geburtstag, 2017, S. 201). Rechtsvergleichend kann an dieser Stelle angemerkt werden, dass der Oberste Gerichtshof Österreichs entschied, dass die Einwilligung in die Veröffentlichung eines Bildes grundsätzlich vertretungsfeindlich sei (Os 176/15v vom 13.01.2016) und damit nur von der abgebildeten Person selbst wahrgenommen werden kann.

Eltern sind im Rahmen ihrer elterlichen Sorge zu gewissen Teilen befugt (und verpflichtet), die relativ höchstpersönlichen Rechte ihrer minderjährigen, urteilsunfähigen Kinder wahrzunehmen. Dabei treffen Eltern Entscheidungen im Rahmen der elterlichen Sorge grundsätzlich gemeinsam, und nehmen dabei Rücksicht auf den Willen des Kindes. Bei Uneinigkeiten, oder bei Gefährdung des Kindeswohls kann stets die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) beigezogen werden.

Der Vertretungsbefugnis der Eltern sind dabei Grenzen gesetzt: Entscheidungen müssen dem Kindeswohl dienen und im Hinblick auf die Interessen des Kindes geboten sein. Zudem entfällt die Vertretungsbefugnis generell, wenn die vertretende Person eigene Interessen verfolgt, die sich nicht mit denjenigen der vertretenen Person decken (Art. 306 Abs. 3 ZGB).

Welche Interessen Eltern mit der Veröffentlichung von Aufnahmen ihrer Kinder verfolgen, und welche Interessen der Kinder für und gegen eine solche Veröffentlichung sprechen, und ob eine solche überhaupt dem Wohl des Kindes dienen kann, ist dementsprechend die zentrale Frage dieses Themas.

Zurück zum altmodischen Fotoalbum?

Dass es legitime Interessen des Kindes, bzw. des später Erwachsenen, gibt daran, Erinnerungen (audio) visuell festzuhalten, wird hier nicht bestritten. Das Interesse von Kindern am Vorgang des Festhaltens bzw. Fotografierens / Filmens kann zudem vielschichtig sein: nicht nur kann später auf den Moment zurückgeblickt werden, auch Kinder und Jugendliche erfreuen sich an Social Media und der Zustimmung, die sie dort erhalten. Zudem geniesst das Kind im Moment der Aufnahme die volle Aufmerksamkeit der Person hinter der Kamera.

Aber auch vor diesem Hintergrund bleibt die Frage, ob entweder das urteilsfähige Kind mit der Aufnahme und der Veröffentlichung einverstanden ist oder die Aufnahme und Veröffentlichung dem Wohl und Interesse des urteilsunfähigen Kindes entspricht.

Instagram, Facebook und Co. sind voll von Kinderbildern, bei denen es (auch) um das Darstellungsinteresse der Eltern, durch das Präsentieren der "härzigen", lustigen oder sogar "schwierigen" Kinder geht. Die stolzen Eltern zeigen ihre Kinder beim Essen, Schlafen, Spielen - auch mal im Freibad, der Badewanne oder auf dem Spielplatz zwischen zahlreichen anderen Kindern. Oft wird nicht zurückgeschreckt davor, das Kind in "peinlichen" Situationen darzustellen, um die Verwandten und Bekannten zum Lachen zu bringen, Likes zu sammeln und Views (Klicks) zu generieren.

Kommt es zu genügend Klicks, besteht die Möglichkeit mit den geteilten Kinderaufnahmen Geld zu verdienen. Das Thema von Kinder-Influencern und Familien-Blogs würde aber den Rahmen dieses Artikels sprengen (ausführlicher dazu: Kunz von Hoyningen-Huene /Oberlin, SJZ 118/2022 S. 1138 f.).

Längst bekannt ist aber beispielsweise, dass ein beachtlicher Anteil der (Kinder-) Fotos auf Pornoseiten und in Chatrooms für Pädophile ursprünglich von privaten Instagram und Facebookseiten stammt (siehe dazu: Keskin et al., Healthcare (Basel) Journal, 2023 May). Es stellt sich also die Frage, ob das Wohl des Kindes nicht sogar gebietet, das Teilen von Kinderbildern im Netz zu unterlassen. Denn auch unscheinbare Aufnahmen werden durch Verfälschungen, Zusammenschnitte, Anfügen von Kommentaren und Ähnlichem sexualisiert.

Was bedeutet dies konkret?

Ein urteilsfähiges Kind hat das Recht selbst zu bestimmen ob Aufnahmen, auf denen es zu erkennen ist, hergestellt und veröffentlicht werden dürfen. Dabei sind die Anforderungen an die Urteilsfähigkeit hinsichtlich einer Ablehnung tiefer anzusetzen, als diejenigen an eine Zustimmung. 

Beim Teilen von Aufnahmen urteilsunfähiger Kinder dürfte regelmässig das Persönlichkeitsrecht der Kinder verletzt sein. Eine rechtfertigende Einwilligung durch die Eltern als gesetzliche Vertreter ist aufgrund des Interessenskonflikts oder der absoluten Höchstpersönlichkeit des konkreten Rechts wohl in vielen Fällen ausgeschlossen. Selbst wenn Interessen bestehen, Erinnerungen fotografisch festzuhalten, ist das Teilen solcher Aufnahmen nicht eingeschlossen von solchen Interessen und muss im Namen des Kindeswohls geschehen.

Bedeutet dies, dass auf das Teilen von Kinderfotos auf Social Media, auf "sharenting", verzichtet werden muss? Bei urteilsunfähigen Kindern in den meisten Fällen, ja. Urteilsfähige Kinder müssen, zumindest in der Art eines Vetorechts, nach ihrer Zustimmung gefragt werden, wobei die Urteilsfähigkeit hinsichtlich einer Einwilligung kritisch zu beurteilen ist.

Ohne die Einwilligung des Kindes bzw. der sorgeberechtigten Personen liegt bei der Veröffentlichung von Aufnahmen, auf denen das Kind erkennbar ist (im Sinne des Persönlichkeitsrechts), eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung vor. Diese kann höchstens durch ein Gesetz oder durch das Vorliegen überwiegender Interessen gerechtfertigt sein (Art. 28 Abs. 2 ZGB).

Ist die Persönlichkeitsverletzung widerrechtlich, so kann die geschädigte Person an das Gericht (oder an die KESB) gelangen. Sie kann einerseits die Unterlassung, Beseitigung oder Feststellung der Persönlichkeitsverletzung anstreben, und andererseits Schadenersatz, Genugtuung oder Gewinnherausgabe verlangen (Art. 28a ZGB).

Braucht es ein Verbot von Kinderbildern im Netz?

Ein generelles Verbot des Sharentings ist wohl kaum mit der gelebten Realität vereinbar. Ausserdem müsste jeweils im Einzelfall die Urteilsfähigkeit der möglicherweise rechtmässig einwilligenden Kinder bzw. ihrer sorgeberechtigten Vertretung geprüft werden. Dies ist kaum möglich.

Es gilt aber bezüglich dieses Themas zu sensibilisieren.

Nur wer das Recht kennt, kann es auch wahrnehmen: Kinder sollten auch in diesem Bereich altersgerecht über ihre Rechte aufgeklärt werden. Zudem braucht es Anlaufstellen für Kinder, ähnlich wie sie für Fälle von anderen Grenzüberschreitungen durch Erwachsene (oder andere Kinder) existieren.   

Gleichzeitig gilt es Eltern zu sensibilisieren, insbesondere hinsichtlich der Missbräuche und Ausbeutungen, zu welchen es im Netz kommt. Geeignet dafür sind Kampagnen, wie diejenige des Kindeschutz Schweiz «Bilder ohne Bilder» (https://www.kinderschutz.ch/kinderschutz-schweiz/aktuelles/bilder-ohne-bilder).

Ich sehe es als die Aufgabe von Juristinnen und Juristen dieses Thema aufzunehmen. Nicht nur in öffentlichen Debatten und Kampagnen - auch im Gerichtssaal und bei Behörden (insbesondere der KESB) muss das Gefahrenpotential von Kinderbildern im Netz erkannt, verstanden und ernst genommen werden.

Bei Fragen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts wenden Sie sich gerne an Raël Fein. Bei Fragen zum Thema Datenschutzrecht wenden Sie sich gerne an Sven Kohlmeier.